Das junge Schriftstellerhaus

Alba D’Alesio: „Regenschirme“

Alba d’Alesio ©privat

Alba D’Alesio: „Regenschirme“

Es ist kalt. Es ist kalt und nass. Die Reifen des Taxis zischen durch Pfützen, durchweichen unschuldige Passanten am Straßenrand.
Nadine seufzt. Ihre Finger trommeln ungeduldig gegen die Türe des Autos. Der Fahrer wirft ihr immer mal wieder einen Blick durch den Rückspiegel zu. Zu oft. Zu intensiv. Nadine sieht auf die Straße. Durch das Labyrinth der Regentropfen, die auf ihrer Fensterscheibe tanzen, sieht sie den schwarz-grauen Gestalten auf dem Gehweg zu.
Den Kopf gesenkt, die Hände tief in die Taschen vergraben, die Kapuze im Gesicht. Zielstrebig verfolgen sie ihren Weg.
Das Taxi hält an einer Ampel. An Nadine werden dunkle Regenschirme vorbeigetragen, ihre Besitzer mit durchweichten Sohlen in das Licht der Ampel getaucht. Ein warnender Farbklecks in all dem Grau.
Es war ein furchtbarer Tag, schon von der Sekunde an, in der Nadine ihre Füße aus dem Bett schob. Als sie seine Nachricht auf dem Nachttisch sah. Die Worte, die ihr auf dem kleinen Bildschirm entgegenleuchteten.
Nadine schaut nach vorne zum Fahrer. Seine Augen blitzen im Spiegel zu ihr. Er zwinkert. Angewidert wendet sie sich ab. Sie entsperrt ihr Handy, um ihn nicht noch einmal ansehen zu müssen. Ihr Mantel ist hochgeschlossen.
Sie vergräbt ihr Kinn in ihrem Kragen und senkt den Kopf in Richtung des Bildschirms. Google Maps sagt, sie wäre in einer Minute da. Nur noch diese Ampel.
Frustriert wagt Nadine einen erneuten Blick nach draußen. Das rote Licht sticht ihr in die Augen. Der Regen ist jetzt stärker. Nadines Hände streichen über den Saum ihres Wollmantels. Sie hat ihren Regenschirm vergessen.
Die Ampel ist grün, der Fahrer fährt an. Er steuert auf einen Taxistand in der Nähe einer Bushaltestelle zu. Nadine beeilt sich mit dem Bezahlen, springt aus dem Wagen, ohne den Fahrer noch einmal anzuschauen.
Ihre Absätze brechen durch die Pfützen auf der Straße, während ihre Locken umhertanzen, den Bewegungen ihres suchenden Kopfes folgend. Das große Gebäude des Bahnhofs strahlt ihr von weit hinten verschwommen entgegen. Nadines Beine huschen hastig darauf zu. Der Weg ist weit, der Regen zu stark.
Wasser rinnt Nadine in die Augen, tropft von ihrer Nasenspitze. Es stört. Ihr grauer Mantel ist binnen Sekunden durchweicht.
Doch sie weiß, wohin sie will. Zu ihm. Dann wird alles besser.
Ihr linker Stiefel knickt unerwartet zur Seite und Nadine stolpert in einen See von Pfütze. Oberkörper vor, Füße Halt suchend, ertrinkt alles in aufspritzendem Wasser.
Nadine flucht. Laut. Eine Stimme ertönt hinter ihrem Rücken. ,,Ist doch nur ein bisschen Regen.’’ Nadine hält inne. Wut steigt in ihr auf. Ein bisschen Regen?
Nadine dreht sich tropfend der brüchigen Stimme entgegen. Vor ihr steht ein alter Mann. Er ist ebenso in Regen getüncht wie sie, dabei hängen ihm viele schwarze Regenschirme über der Schulter. Er hat ein freundliches Lächeln in den Augen. Der Regen prallt an ihm ab. ,,Sie haben es aber eilig.’’ Nadine starrt den Mann an. Er steht einfach da und sieht zurück. Sie will sich schon abwenden, da fragt der Mann: ,,Wohin soll es denn gehen?’’ Er nickt in Richtung Bahnhof. Nadine folgt der Bewegung. Der Bahnhof steht unverändert da. Nadine muss ihre Augen inzwischen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Zu ihm. Sie muss zu ihm. Es ist egal, was in seiner Nachricht gestanden hat. Dort würde es egal sein.
Er hat nur zu viel Zeit an diesem Ort verbracht. An diesem Ort ohne sie.
Nadines Kopfhaut beginnt zu jucken, als verschiedene Tropfen darüberrinnen.
Sie will ihren Zug nicht verpassen. Unsicher wendet Nadine sich dem Mann zu, der immer noch steht und sie schief anstarrt. Seine Augen sind nicht mitleidig, einfach nur neugierig. Er steht da, ein Arm hält das Konstrukt aus Regenschirmen, der andere hängt einfach schlaff neben seinem schwarzen Mantel.
Nadine will ihren Weg fortsetzen, doch etwas am Anblick ihres Gegenübers lässt sie innehalten.
Sie will ihren Zug nicht verpassen. Sie darf ihn nicht verpassen. Er ist der letzte, der an diesem Tag noch fährt.
Nadine sieht an sich herab. Sie hat nicht einmal gepackt.
Nadine holt ihr Handy aus ihrer Tasche und öffnet seine Nachricht.
Nadi, ich glaube du verstehst mich nicht. Ich bleibe hier. Es tut mit leid, es ist vorbei.
Ihre Hand beginnt zu zittern.
Tropfen bedecken rasch ihren Bildschirm. Das Handy ertrinkt im Regen und schwimmt in ihrer Hand. Schnell steckt sie es zurück in ihre Tasche.
Sie muss sich beeilen. Sie hat nicht mehr viel Zeit.
Wenn sie erst einmal bei ihm ist, wird alles wieder gut.
Nadine sieht den Mann an, will weiter. Dann kann auch er seinen Weg fortsetzen, anstatt nur da zu stehen und die Frau in ihrem tiefgrauen Wollmantel anzuschauen.
Sie muss weiterlaufen.
Es ist vorbei.
Nadines Beine gehorchen ihr nicht mehr. Sie steht einfach nur da und starrt den Mann an. Mit zu viel Wasser in ihren Haaren, Klamotten. In ihren Augen.
Schließlich sagt sie: ,,Zu meinem Freund.’’
Der Mann lächelt.
Wortlos nimmt er einen schwarzen Regenschirm aus dem Strauß an seiner Schulter.
Er hält ihn Nadine entgegen.
Als sich ihre kalten Finger um den Griff schließen, senkt der Mann seinen Kopf und folgt dem Fluss der Pfützen, vorbei an Nadine und dem Schirm.
Einige Sekunden steht sie da. Erstarrt, den Schirm in ihrer Hand. Verwundert, erstaunt, dazwischen.
Nadine blinzelt den Regen weg.
Sie öffnet den Regenschirm, hebt ihn über ihren Kopf und beginnt, zu rennen.

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